Wenn Krankenhäuser Autos bauen

Shownotes

Herzlich Willkommen. Mein Name ist Jörg Gottschalk und ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Denn manchmal ist die Realität doch deutlich amüsanter, als sie auf den ersten Blick erscheint.

Was würde wohl passieren, wenn ein Krankenhaus auf der Suche nach neuen und zukunftssicheren Ertragsmöglichkeiten seine Erfahrungen in der Produktion komplexer Leistungen nutzen, bewährte Prozessmethoden übertragen und künftig innovative Autos bauen würde? Nun, sie würden mit Sicherheit die Welt verändern. Elon Musk wäre ihr Fan. Hier finden Sie den ersten Erfahrungsbericht.

Seitdem Autos mit den Methoden eines Krankenhauses hergestellt werden, gibt es im Werk keine Fließbänder mehr. Sie haben sich weder als effektiv noch als effizient herausgestellt. Einzel- und Gruppenarbeitsplätze erleben ihre Wiederbelebung.

Die Geschwindigkeit und die Qualität der Produktion hängen vor allem davon ab, wie viele Mitarbeiter morgens zur Arbeit erscheinen. Der Personaleinsatz ist hochvariabel und -- weil keine Personalpuffer existieren -- schlägt die schwankende Personalmenge unmittelbar auf die Produktion durch. Die Geschwindigkeit und die Qualität der Produktion hängen außerdem maßgeblich davon ab, welche Qualifikation und Erfahrung diese Mitarbeiter mitbringen.

Weil aus diesen Gründen kein Arbeitsschritt vollständig oder identisch erledigt werden kann, dokumentieren die Teams ihre Leistungen umfassend, damit das jeweils nächste (zufällige) Team auf dem aktuellen Zustand des vorausgehenden Schrittes aufbauen kann. Derzeit arbeitet man mit Hochdruck daran, die Qualität und die Vollständigkeit dieser Dokumentation zu optimieren. Gerade wird ein neues Vorstandsreferat Dokumentationsmanagement aufgebaut.

Aus guten Gründen wurde dazu die Werkssprache auf English umgestellt, denn die höchst unterschiedlichen Herkunftssprachen der Mitarbeiter haben in den letzten Monaten verstärkt zu Problemen in der Produktion und vor allem in der Dokumentation geführt. Jeder Mitarbeiter soll, so die Vorgabe, innerhalb von zwei Jahren das europäische Sprachlevel B1 English erreichen. Bis dahin werden zusätzliche und mehrsprachige Übersetzer eingestellt. Auch arbeitet man an der Standardisierung der Dokumentation, was allerdings derzeit auf starke Ablehnung in den Teams stößt. Die Gewohnheiten der Menschen sind doch zu unterschiedlich.

So entstehen Übergabeprotokolle mit einer variierenden Länge zwischen 2 und 6 Seiten pro Auto. Bis sich die Qualität der Dokumentation und das Sprachniveau verbessert haben, wird jedes Team zu einer 30-minütigen Übergabe unter Anwesenheit mehrsprachiger Übersetzer verpflichtet: jeweils am Anfang und am Ende einer Schicht.

Wenn Arbeitsschritte bei der Übergabe nicht erledigt sind, übernehmen die nachfolgenden Teams diese Aufgabe, soweit es ihre Besetzung und Qualifikation erlauben.

Mehrmals am Tag kommt es vor, dass die Schicht- und Produktionsleiter Änderungen an der Konstruktion vornehmen. Das ist heute möglich, weil alle Teams in der Lage sind, jederzeit sämtliche Sonderwünsche und Änderungen im Produktionsprozess zu berücksichtigen und auszuführen. Ohne es beabsichtigt zu haben nimmt so die Variantenvielfalt der produzierten Autos erheblich zu. Der Kunde ist längst daran gewöhnt, nicht nur ein individuelles Fahrzeug zu erhalten, sondern auch daran, das Fahrzeug zu akzeptieren, das er bekommt. Er liebt diese Form der Überraschung und die persönliche Einzigartigkeit seines Individual-Autos. Das individuelle und personalisierte Auto wird zum Markenzeichen der neuen deutschen Hersteller.

Anfangs kann es ungewohnt sein, doch der Kunde lernt schnell: wo ist der Blinkerhebel, wo die Schaltung, wo das Radio, wo der Lichtschalter, wie sind Gas-, Brems- und Kupplungsschalter angeordnet? Wo ist vorne, wo ist hinten?

Weil es in der Produktion aufgrund der hohen Variabilität der Modelle und Vorgehensweisen keine Leistungsbeschreibungen oder Arbeitsrichtlinien mehr geben kann bzw. ohnehin nicht einzuhalten sind, ist jeder Montagemitarbeiter heute perfekt dazu in der Lage, sein persönliches Wissen und seine Kreativität voll einzubringen. Er darf seine Aufgaben so erledigen, wie er denkt, dass es richtig wäre. So fließt jederzeit das gesamte, existierende Knowhow in das Endprodukt ein.

Die heute produzierten Autos verhalten sich im Übrigen sehr robust gegen unterschiedliche Herstellungsvarianten. Schrauben können sowohl rechtsherum wie linksherum festgedreht, Armaturenbretter rechts wie links eingebaut werden. Es soll sogar vorgekommen sein, dass ein Motor in den Kofferraum gebaut wurde und das Auto trotzdem funktioniert hat.

Allerdings müssen die Autohersteller und ihre Kunden einige Abstriche am Design akzeptieren. Es wird jedoch bereits fieberhaft nach weiteren Konstruktionsverbesserungen gesucht, damit die gewünschte Herstellungsflexibilität langfristig nicht mehr die Designqualität negativ beeinflusst. Personalisierung soll nicht zum Designkiller werden, so die klare Vorgabe der Hersteller.

Seit dem Vollzug des Brexits werden verstärkt englische Leasingkräfte mit Sondergenehmigungen eingeflogen und im Produktionsprozess eingesetzt. Die Automobilproduktion auf der Insel liegt bekanntlich am Boden. In England wird links gefahren, was die Produktionspraxis auch in deutschen Automobilwerken nachhaltig verändert hat. Armaturenbretter finden sich immer öfter rechts. Ebenso die Pedale. Weil diese Praxis zunimmt, überlegt die Bundesregierung nun, den Rechts- und Linksverkehr in Deutschland zuzulassen.

Sie hat zu diesem Zweck die Entwicklung eines umfassenden Steuerungs- und Managementsystems für den Straßenverkehr ausgeschrieben. Es soll eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte der nächsten Legislaturperiode werden. Auch wird in einem zehnjährigen Übergangszeitraum die Polizei auf den Straßen deutlich verstärkt.

Die neue Art der Produktion lässt nicht zu und es ist auch nicht mehr nötig, den Produktionsprozess exakt vorauszuplanen. Der Kunde bestellt längst nicht mehr. Er lässt sich überraschen.

Welches Material und Werkzeug was wann und von wem an welchem Arbeitsplatz benötigt wird und welche Arbeitsschritte in welcher Reihenfolge zu erledigen sind, bleibt den Mitarbeitern überlassen. Deshalb werden das Material und die Werkzeuge heute wieder zentral oder an den Stellen gelagert, wo es am wahrscheinlichsten benötigt wird. Um Lager- und Transportkosten zu senken, werden die Werke nur noch einmal wöchentlich beliefert.

Aus Kostengründen wurde der Umfang des zur Verfügung stehenden Werkzeugs in den vergangenen Jahren mehr als halbiert. Seitdem ist die Auslastung von Maschinen, Geräten und Werkzeugen extrem in die Höhe geschnellt -- sehr zur Freude der Controller.

Die Mitarbeiter kommen damit sehr gut klar. Sie verfügen heute über die Erfahrung und das technische Improvisationstalent, um mit dem Werkzeug und dem Material auszukommen, das sie gerade vorfinden. Sie wissen stets, wo sie etwas finden können und welche Arbeitsschritte sie gerade für wichtig erachten.

Lediglich neue Mitarbeiter haben in den ersten Wochen und Monaten ein Problem, denn sie verfügen noch nicht über diese Erfahrung. Die so entstehenden Einarbeitungszeiträume sind zwar lang, doch werden sie von der Betriebsleitung gerne in Kauf genommen. Sie wirken sich positiv motivierend auf das allerhöchste Gut im Unternehmen aus: auf Selbständigkeit, Kreativität und Flexibilität. Mitarbeitende sind bis in die Haarspitzen hinein motiviert, jeden Tag neue Höchstleistungen zu erbringen. Dafür bleiben sie auch gerne einmal länger.

Mittlerweile werden neue Mitarbeiter nicht mehr strukturiert eingewiesen, denn das würde sie in ihrem persönlichen Freiheitsraum nur unnötig begrenzen und ihre Motivation zerstören. Sie sollen vielmehr maximale Flexibilität lernen. Angesichts der chaotischen Produktionsweise wüsste ohnehin niemand, wie eine solche Einweisung aussähe.

Für den Kunden hat diese Art der Produktion einen äußerst positiven Effekt: die Lieferzeiten sind in den vergangenen Jahren um 300 Prozent, von durchschnittlich 2 auf 6 Monate, angestiegen. Jetzt steht mehr Zeit zur Verfügung, um auf das schöne, neue Auto zu sparen. Was auch dringend nötig ist, weil die Verkaufspreise sich innerhalb von drei Jahren um mehr als 50 Prozent erhöht haben, Tendenz epidemisch steigend.

Allen Vorbehalten zum Trotz ist die gute Nachricht: Jeder Kunde kann sich absolut sicher sein, dass sein Auto tatsächlich fährt. Die Vorfreude auf sein neues Fahrzeug steigt ins Unermessliche, denn er erhält ein maximal individuelles Produkt. Man könnte sogar sagen, dass kein Auto jemals mehr identisch hergestellt wird. Straßen voller personalisierter Unikate.

Allerdings, das ist die schlechte Nachricht, ist nicht mehr genau vorauszusehen, ob das Fahrzeug 100.000 oder 300.000 Kilometer ohne gravierende Reparaturen überstehen wird. Das muss den glücklichen Eigentümer allerdings nicht bekümmern, denn der Herstellerservice hat sich in den letzten Jahren massiv verbessert. Die Anzahl der Reparaturwerkstätten wurde um mehr als 350 Prozent erhöht. Die Reparaturkosten übernimmt bis zu einer Laufleistung von 280.000 Kilometer ein eigens dafür eingerichteter Autoreparaturstrukturfond, den die Bundesregierung im letzten Jahr aufgelegt hat. In diesen Fond zahlen alle Führerscheinbesitzer und Hersteller ein. Nur Politiker, Beamte und Bayern sind von dieser Regelung ausgenommen. Für sie wird derzeit nach tragfähigen Alternativen gesucht. Aktuell wird darüber nachgedacht, für diese Gruppen ausschließlich den Besitz japanischer Autos zuzulassen.

Vielleicht haben Sie bei dieser kleinen Geschichte ein wenig in den eigenen Spiegel geschaut.

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